Herbert | Blankstein |
Herbert Blankstein was born in Vienna in 1925 and grew up in the 9th district. In December 1938 he fled with his mother to Brussels. His stepfather was deported to Southern France in 1941 and later to Auschwitz. In Belgium, Blankstein worked in the armaments industry and was protected from deportation due to his knowledge of German. Blankstein married in Brussels and emigrated to Palestine in 1948 together with his mother, wife and son. He worked as a goldsmith. Blankstein lived in Tel Aviv at the time of his interview. |
Full interview
Part 1 |
Part 2 |
in chronological order
Teil 1
HB: Der Anschluss war wirklich…obwohl ich…ich meine, ein Kind sieht das alles anders. Ein Kind sieht das alles natürlich. Heute verstehe ich, dass das…für die Erwachsenen war das eine Katastrophe, und für ein Kind war das irgendwie natürlich, irgendwie nicht so aus der Bahn geworfen, möchte ich sagen. Obwohl natürlich die ganze finanzielle Lage sich vollkommen geändert hat. Ich stamme aus einer Familie, die ziemlich…aus einer Arbeiterfamilie, Angestelltenfamilie…nicht reiche Leute. Und meine Mutter war die…eigentlich haben wir im…dort zusammengewohnt mit meiner Mutter, meiner Großmutter und noch zwei Brüdern meiner Mutter und ich, und dann noch zwei Mädchen, Untermieterinnen. Es war eine große Wohnung, und – um finanziell zu helfen – hatten wir halt…hat die Familie einige Zimmer, zwei Zimmer, vermietet. Ein kleineres Zimmer und ein größeres Zimmer wurden vermietet, an Studentinnen oder so. Weil die Wohnungsnot in Wien war auch katastrophal damals. Und eigentlich glaube ich, dass…ich weiß jetzt nicht so genau…aus den Einnahmen der Untermiete konnten wir die Miete bezahlen, eigentlich. Das war…und meine Mutter war die einzige Verdienerin in der Familie. Die zwei Männer, die zwei Brüder, hatten…der eine Bruder, der war ungefähr damals, würde ich sagen…zurückdenkend…der eine Bruder war ungefähr 25, 27…der Jüngere. Und der war nix, der hat keinen Beruf gehabt. Und der Ältere, ungefähr 30, 31, der war ein Geiger, Berufsgeiger. Aber als Jude hat er keine Chance gehabt und hat immer nur gelernt, sich weiter fortgebildet als Geiger. Und zu Hause…sein Tag war Üben, Geige-Üben. Und der, also der Geiger, der Ältere, wurde sofort festgenommen. Wie wir nach Brüssel emigrieren wollten, ist er mit uns mitgekommen. Das heißt, meine Mutter, ich und er. Ich muss früher anfangen.
Meine Mutter hat sich sehr früh schon von ihrem Mann scheiden lassen. Ich glaube, weil sie sich in einen anderen Mann verliebt hat. Und dieser andere Mann war dann später…die haben dann nach dem Anschluss geheiratet. Das heißt, der Anschluss war im März [19]38, und die haben ungefähr im Juni geheiratet. Denn der zweite Mann meiner Mutter musste fliehen. Er musste schnell weg. Es war damals üblich…er musste alles…er war ein Elektroingenieur und hat ein Büro gehabt. Aber alles…was im Laufen war, seine ganze…wie soll ich sagen? Sein ganzes Betriebskapital war investiert in Projekte, und da war nichts zu holen, überhaupt nichts. Keiner wollte auch nur einen Groschen auszahlen. So ist er ohne Geld geblieben, eigentlich. Er hat dann alles, was er gehabt hat, verkauft und ist schnell weg, nach Belgien. Er wollte eigentlich nach Holland, aber ist dann eben in Belgien gelandet. Und dann, eben um…wir haben dann versucht, zu ihm zurückzukommen…uns zu vereinigen, und das ist auch gelungen. Nur zu einem sehr harten Preis, denn wir mussten die Mutter meiner Mutter zurücklassen. Damals…ich meine, damals war sie für mich eine alte Frau, aber die war nicht mehr wie vielleicht 65, 68. Heute bin ich 88, also da ist sie wie ein Kind für mich. Und mit der Mutter auch die Schwester von meiner Mutter und das Kind von meiner Mutter. Wir waren gleichaltrig. Das Mädchen…also, die sind dann zu dritt zurückgeblieben und…haben das Schicksal aller Wiener Juden erlitten.
1/00:05:44
Im Jahr…wir haben Post bekommen bis zum…ich glaube, der letzte Brief war Anfang [19]42 und dann nichts mehr. Und später, nach dem Krieg, haben wir erfahren, dass alle Wiener Juden nach Lublin evakuiert wurden und von dort aus natürlich vernichtet wurden. Ich persönlich habe damals noch aus Brüssel versucht, meine Cousine eben…das war meine Cousine…dorthin zu bringen. Aber meine Versuche blieben erfolglos, weil ich nicht die richtigen Kontakte hatte. Ich war ein Schüler. Ich habe da und dort gearbeitet, so kleine Arbeiten und habe immer versucht, Kontakte zu schaffen, um irgendwie…aber das hat nicht geklappt. Und damit war die Sache erledigt. Und jetzt, wie wir eigentlich nach Brüssel, nach Belgien, geflohen sind: Wir…meine Mutter hat alles Geld zusammengescharrt, was nur da war, weil wir wussten, dass das eine teure Sache ist. Die Leute, die das gemacht haben, die haben Schlepper geheißen. Genau dasselbe, was heute ist, mit den Afrikanern, mit den Flüchtlingen aus Syrien, und das war genau dasselbe damals. Die Leute, die an der Grenze gewohnt haben, die haben das Terrain gekannt und die haben, gegen Geldbezahlung natürlich, Gruppen herübergebracht. Und wir haben das gewusst. Wir sind dann nach…wir sind zu dritt, meine Mutter und ich und mein Onkel…das heißt, der Bruder meiner Mutter, der Geiger…wir sind nach Aachen gefahren. Und in Aachen haben wir eigentlich versucht, Kontakte aufzunehmen, wie man rüberkommt. Und gleich beim ersten Versuch…natürlich, die ersten Versuche waren…wie soll ich sagen…naiv, sehr naiv. Wir haben beim ersten Versuch die Zollstelle…die deutsche Zollstelle war ein bisschen außerhalb Aachens. Und wir haben ein Taxi genommen, dummerweise. Und das Taxi hat uns hingebracht, und der Taxichauffeur ist gleich hingekommen und ist zu den Zollbeamten gegangen. Da waren nicht nur Zollbeamte, da waren auch Gestapo-Leute. Und er hat gemeldet: „Da kommen Juden, die wollen rüber.“ Na gut, dann haben sie uns dementsprechend empfangen, und meiner Mutter und mir ist nichts passiert. Nur meinen Onkel hat man sofort mitgenommen, weil er gerade im Alter war…vielleicht war er 32, 33, ich weiß es nicht so genau. Mit der Geige unter dem Arm hat man ihn gleich verschickt.
Sein persönliches Schicksal, um das vorwegzunehmen: Er wurde in Buchenwald interniert. Und in Buchenwald gab es interessanterweise ein Arrangement, dass, wenn einer der Insassen ein Visum vorweisen konnte, wurde er entlassen. Und dieser Onkel von mir, der Geiger, der war ein Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. Das ist ein bisschen schwer zu erklären, was das eigentlich ist. Das ist ein…wie soll ich sagen…ein Verein, der…die Anthroposophie ist eine Lehre, die ein gewisser Rudolf Steiner entwickelt hat, der in Basel zu Hause ist – und der hat dort ein sehr schönes Haus gebaut. Heute ist diese Anthroposophische Gesellschaft noch tätig, im Unterricht für zurückgebliebene Kinder. Und die machen eine grandiose Arbeit. Ich habe das von anderen Quellen nach dem Krieg herausbekommen. Um zu kürzen: Diese Anthroposophische Gesellschaft, wie sie gehört hat, dass mein Onkel interniert ist…wieso die das wussten, weiß ich nicht. Vielleicht hat meine Großmutter die verständigt oder irgendwie. Ich weiß es nicht genau, wie das war. Auf jeden Fall haben sie ihm ein Visum für Shanghai geschickt. Das war ein Visum zusammen mit einer Schiffskarte. Und er war so ein introvertierter Typ. Er war so ein Mensch, der sich nicht zu helfen wusste, so ein unbeholfener Mensch. Und er ist nicht nach Shanghai gefahren.
1/00:11:29
LSY: Und er ist zurück nach Wien?
HB: Er ist zurück nach Wien, und was genau passiert ist, weiß ich jetzt nicht. Auf jeden Fall ist es eine interessante Geschichte. Ich habe von ihm dann noch gehört, aber das kommt später. Wir waren also in Aachen, und in Aachen war es alles sehr teuer. Das Hotel und…wir waren gezwungen, nach Köln umzusiedeln, weil wir haben gesehen, dass das Geld nicht reichen würde. Wir sind dann in Köln gewesen, meine Mutter und ich. Und in Köln haben wir auch versucht, Kontakte herzustellen, und wir haben auch Kontakte bekommen. Nur jedes Mal war es nichts. Jedes Mal wurden wir festgenommen. Im Allgemeinen waren die…wie soll ich sagen…die Gestapo-Leute waren in Ordnung, waren nett. Sie haben uns nichts angetan. Nur eine Sache war einmal. Ich weiß nicht genau, wie das war. Auf jeden Fall hat meine Mutter…die haben uns separiert verhört. Diese Polizisten, die waren nicht in Uniform, die waren in Zivil. Ich erinnere mich. Und zuerst kam meine Mutter zum Verhör, und wie sie aus dem Verhör herauskam, zeigte sie mir die Hand so…versteckt. Sie hat mir ein Zeichen machen wollen, und ich habe geglaubt, dass man ihr einen Finger abgeschnitten hat…und bin in Ohnmacht gefallen. Und die haben nicht gewusst, natürlich, warum. Die haben sich nicht vorstellen können…was ist mit dem Jungen passiert? Bis ich dann aufgewacht bin…habe ich dann gesagt…habe ich gesehen, sie hatte alle Finger noch auf der Hand, dann habe ich mich beruhigt. Natürlich war der Beamte sehr anständig zu mir, er hat mich nicht sehr streng verhört, hat uns dann natürlich gehen lassen. Im Allgemeinen haben sie uns gehen lassen, immer. Wir waren dann in Köln, und dann ist noch eine interessante Geschichte passiert. Das war schon strenger Winter, und es war einige Tage vor Weihnachten. Oder nein, das war eigentlich schon nach Weihnachten…zwischen Weihnachten und Neujahr. Überall…wir hatten schon sehr, sehr knapp Geld, aber am letzten Tag hatten wir einen Kontakt, sodass wir wussten, wir müssen jemanden treffen an der Grenze in einem gewissen Ort. Ich kann mich nicht mehr erinnern…etwas wie Rosental oder irgend…ich kann mich nicht erinnern genau. Jedenfalls, das war zwanzig, 30 Kilometer südlich von Köln. Und gerade am letzten Tag war schon überall ausgehängt das Schild „Juden verboten“…also in den Restaurants. Aber wir haben immer nur gespart, wir haben immer nur geschaut, wenig auszugeben, und dann haben wir…wir sind herumgegangen bei den Fischküchen. Es gab solche Fischküchen, wo man Schnellgerichte serviert hat, und dort war nichts ausgeschrieben. Und wir sind herein und haben Fisch gegessen. Plötzlich kommt ein Mann herein, der den Schnee weggeschaufelt hat auf der Straße dort, vor dem Fischrestaurant, und hat uns sozusagen festgenommen. Er hat gesagt: „Ihr seid Juden. Ihr habt dort nichts verloren.“
1/00:15:59
Da haben wir gesagt: „Hier ist nichts ausgeschrieben. Das heißt, wenn nichts…kein Schild da ist, dann dürfen wir hier essen.“ – „Nein, Juden verboten! Kommt mit!“ Gut, wir waren sozusagen machtlos, und wir sind mitgegangen. Meine Mutter war eine sehr couragierte Frau. Und er hat uns zur Gestapo in Köln gebracht. Und der Gestapo-Beamte war sehr, sehr anständig und hat dem Mann, dem Schneeschaufler, gesagt: „Irgendwo müssen die Juden doch auch essen.“ Daran erinnere ich mich. „Irgendwo müssen sie ja auch essen.“ Und: „Ihr könnt gehen“, hat uns nach Hause geschickt.
Wir haben gewusst, dass am nächsten…wir haben in einer Pension gewohnt, ich weiß nicht mehr genau, aber in der Nähe vom Bahnhof, auf jeden Fall in der Mansarde oben. Und mitten in der Nacht…wir wussten, dass wir sehr zeitig aufstehen müssen, um den Zug nach Rosenheim…jetzt kommt mir…scheinbar hat es Rosenheim geheißen. Ich weiß es aber nicht genau. Auf jeden Fall, mitten in der Nacht kommt dieser Schneeschaufler, klopft an die Tür, Sturm: „Ihr müsst mir helfen! Ihr habt mir etwas eingebrockt!“ Kommt der und sagt zu uns: „Ihr habt mir etwas eingebrockt! Die Gestapo hat mir Vorwürfe gemacht, warum ich eigenwillig Juden festgenommen habe, ohne dafür die Erlaubnis zu haben. Ihr müsst mit mir morgen früh zur Gestapo kommen, aussagen die Wahrheit, dass ihr freiwillig mit mir gekommen seid.“ Da haben wir gesagt: „Natürlich, wir kommen, ohne Problem. Wir wollen nur noch ein bisschen schlafen.“ Und wir haben natürlich gewusst, wir müssen ganz, ganz früh…vier oder fünf Uhr früh aufstehen, um den Zug…und die Flucht ist uns gelungen natürlich, nach Rosenheim. Und dort…ich glaube das war Rosenheim…ich weiß es nicht so genau. Auf jeden Fall haben wir die Gruppe gefunden. Den Leiter, den Führer der Gruppe, unter Anführungszeichen…den Führer der Gruppe haben wir dann gefunden, und wie der Abend angebrochen ist, sind wir in den Wald hinein. Es war eine Gruppe vielleicht von zwanzig ungefähr.
LSY: Deutschen Juden?
HB: Ja, alles Juden…und kalt und geschneit. Es war sehr, sehr kalt. Ich glaube, es war der 30. oder der 31. Dezember. Ich weiß es nicht so genau…ich glaube. Jedenfalls war der Marsch sehr anstrengend. Bis wir dann in eine Hütte gekommen sind, scheinbar schon auf der belgischen Seite, scheinbar. Und dort konnten wir uns ausruhen. Wir konnten unsere Sachen ausziehen. Wir waren…es war alles nass, von oben bis unten nass. Wir konnten uns ausziehen, wärmen und ausruhen, und dann ging es noch einige Kilometer weiter, bis wir dann ein Taxi hatten. Oder irgendein Auto hat uns abgeholt, aber da waren wir dann schon nicht mehr in der großen Gruppe, sondern eine kleine Gruppe schon, vielleicht von vier, fünf Menschen. Und der hat uns dann in die kleine Stadt Malmedy gebracht. Und von Malmedy hat dann der Führer, der uns dort hingebracht hat, den Rest seines Geldes bekommen und hat uns hereingesetzt in den Zug nach Brüssel. Sehr fair und anständig, nicht so wie die anderen, die nur das Geld genommen haben und die Leute eben verfallen haben lassen.
1/00:20:21
Wir sind dann nach Brüssel gekommen und haben eine sehr gute Zeit verbracht, muss ich sagen…sehr schön. Meine Mutter hat ihren neuvermählten Mann wiedergefunden. Sie hat den Mann schon natürlich…sie war mit ihm in Verbindung, vielleicht zehn Jahre bereits. Aber sie haben erst, nachdem Hitler kam, geheiratet, und ich habe den Verdacht, dass wenn der Hitler nicht gekommen wäre, hätten sie nicht geheiratet, aber das sei dahingestellt. Ich weiß es nicht so genau. Jedenfalls als mein Stiefvater…ich habe ihn sehr gern gehabt, sehr geliebt, diesen Mann. Er hat mir sehr imponiert, weil er…er hat sehr große technische Kenntnisse gehabt, und ich habe mich schon damals für Wissenschaft interessiert und Elektrik und so. Das war alles für mich eine Religion. Auf jeden Fall wurde er von einer Organisation…ja, die Juden, die deutschen Juden, wurden interniert. Das heißt, die nicht-verheirateten, und die keine Kinder gehabt haben, wurden interniert. Das heißt, meistens Leute zwischen 25 und 35 wurden in Merksplas interniert. Merksplas war in der Nähe der holländischen Grenze, in Flandern. Die wurden dort in ein…das war eigentlich früher ein Zigeunerlager, wo man die Zigeuner festgehalten hat. Und dort wurden die Juden dann interniert. Es gab eine Organisation, ich glaube das war HIAS [Hebrew Immigrant Aid Society]. Oder irgendeine amerikanische Hilfsorganisation hat dafür gesorgt, dass die jungen Männer eine Ausbildung bekommen…eine handwerkliche, technische Ausbildung. Und mein Stiefvater bekam den Job als Elektroingenieur, dort die Leute in der Elektronik und Elektrotechnik zu unterweisen in den Grundlagen…wenigstens die theoretischen Grundlagen der Elektrotechnik beizubringen. Und er hat dafür ein Gehalt bekommen, und jeden Samstag kam er nach Hause, nach Brüssel, und wir konnten sehr gut leben von dem Gehalt, das er bekommen hat. Ich bin zur Schule gegangen. Das in der Schule, das hat mir kein Problem gemacht. Obwohl ich in Wien Französisch gelernt habe…in der Realschule war ich damals. Ja, in der Realschule…noch eine interessante Geschichte, die ich bis heute nicht verstehe. In der Schule…ich ging damals in die Realschule im 9. Bezirk.
LSY: In welchem Bezirk habt ihr gelebt?
HB: Im 9. Bezirk. Und am…die Schule war zwei, drei Tage gesperrt nach dem Anschluss, und so wie die Schule wieder begonnen hat, war die Schule für uns unbetretbar. Wir wurden nicht mehr akzeptiert. Und irgendwer…ich glaube, das war einer von den Lehrern, der hat uns gesagt: „Die Juden gehen in das Realgymnasium am Schottentor.“ Gut, wir sind dort hingegangen, und wir haben dort das Schuljahr beendet. Und das Gymnasium war natürlich viel zu hoch für uns, weil wir waren die Realschule. Ich erinnere mich noch, dass unsere Kenntnisse unter aller Kritik waren, gegenüber dem Realgymnasium. Aber die Lehrer waren sehr, sehr nett zu uns. Wir waren ungefähr sechs oder sieben Juden dort, und die waren wirklich sehr nett. Wir haben das Schuljahr beendet und das nächste Schuljahr dann begonnen. Im Sommer hatten wir Ferien, und im September, glaube ich, hat es wieder begonnen. Um das gleich vorwegzunehmen: Eines Tages, das war ungefähr in den [19]70er-Jahren, wie ich schon längst hier war, bekam ich einen Brief vom Realgymnasium Schottenring. Ein Lehrer…ich erinnere mich nicht so genau an den Namen…er hat mir ungefähr in dem Sinn geschrieben: „Ich habe es mir als meine Aufgabe gesetzt, die früheren Schüler des Gymnasiums zu kontaktieren und einzuladen, um uns wieder zu besuchen in der Schule.“ Das hat mich sehr gefreut, natürlich, und ich habe geantwortet, dass ich momentan kein…nicht die Absicht habe, nach Europa zu fahren, und die erste, beste Gelegenheit, wenn es soweit sein wird, komme ich auf jeden Fall. Und so war es auch. Beim ersten Besuch ging ich dann schnurstracks dorthin, und er hat mich sehr, sehr fein aufgenommen und hat mir alles gezeigt. Und es gab dort eine Tafel in dem Gymnasium…im ersten Stock gab es eine Gedenktafel.
1/00:26:10
LSY: Für alle jüdischen Schüler?
HB: Ja, aber nicht per Namen, sondern nur eine Gedenktafel im Allgemeinen. Und er hat mir erzählt, dass viele Leute, die er kontaktiert hat, viele…die waren natürlich schon erwachsen. Ich war auch damals schon 60 oder 65. Mit denen hat er noch Kontakt, und die meisten sind in Amerika. Es sind aber auch zwei, drei in Australien. Die meisten waren in den Vereinigten Staaten [von Amerika]. Damit war eigentlich der Kontakt abgebrochen. Und vor zwei Jahren bin ich wieder nach Wien gefahren, und zufällig, ganz zufällig, war meine Pension ganz in der Nähe der Schule, vis-à-vis von der Votivkirche. Und dort bin ich…habe ich mir gedacht, ich gehe in die Schule. Und was war? Ich wollte unbedingt Lehrbücher kaufen. Und dort, in dem Bezirk dort, nahe dem Schottenring, gab es zwei oder drei Geschäfte, die sich mit dem Verkauf von Lehrbüchern beschäftigen. Und ich bin herein und wollte das kaufen, wollte das kaufen, aber die haben nicht das Richtige gehabt, und ich habe gedacht, ich gehe in die Schule, vielleicht haben…können die mir helfen. Und ich bin in die Schule und habe den ersten Besten dort gefragt: „Mit wem kann ich sprechen?“ Da haben die gesagt: „Du, komm’ nachmittags. Da ist die Lehrerin da, die sich mit den früheren Schülern beschäftigt.“ Das war vor zwei Jahren. Ich war damals schon 86 Jahre alt…kommt da ein Greis. Ich habe ihr erzählt: „Ich war Schüler an dieser Schule, und ich möchte gerne Bücher kaufen, aber ich weiß nicht so genau, wohin gehen. An wen soll ich mich wenden?“ Sie hat gesagt: „Was? Ich gebe es dir.“ Sie hat mir rausgenommen so einen Stoß mit Büchern. Aber so viele konnte ich nicht nehmen. Also habe ich mir zwei, drei ausgesucht, und die habe ich dann geschenkt bekommen. Das war über Mathematik und Physik. Eine sehr nette Frau…und so ist das Kapitel der Schule geschlossen.
Auf jeden Fall kann ich nicht verstehen…wie kann es sein, dass im 9. Bezirk, wo doch…wie soll ich sagen…das Publikum mehr populär war, mehr aus unteren Schichten zusammengesetzt war als im 1. Bezirk am Schottentor…da gingen nur die Wohlhabenden hin.
LSY: Warum die euch dahin geschickt haben?
HB: Nein…wieso haben die uns aufgenommen? Wie kann das sein, dass…ich meine, wenn es eine Anordnung von der Partei oder von…ich weiß nicht von wem, von den städtischen Funktionären war: „Juden dürfen nicht mehr an den öffentlichen Schulen lernen“, dann musste das von allen Schulen berücksichtigt werden, und ich kann mir nicht vorstellen, dass so eine high-quality school Juden akzeptiert und eine low-quality school die Juden rausschmeißt. Bis heute verstehe ich das nicht. Ich meine, wenn das Gegenteil passiert wäre, hätte ich das verstanden. Dass sie nur das bessere Publikum haben wollen und die anderen tun sie abschieben…okay, das wäre verständlich. Aber gerade verkehrt…das verstehe ich nicht.
1/00:30:18
LSY: Hast du die Leute in der Schule dort gefragt, ob die das nachgeforscht haben, was damals war?
HB: Nein, ich habe das nicht gefragt. Ich war…ich meine, speziell zu diesem Lehrer hatte ich eine besondere Hochachtung, dass er sich mit diesen Sachen beschäftigt. Das ist schließlich unendlich. Er war vielleicht 35, 40 Jahre alt. Er war eine ganz andere…wie soll ich sagen…nicht nur Generation, auch eine andere Erziehung, eine andere…er kann nicht verstehen, was damals war. Das kann er nicht verstehen. Auf jeden Fall habe ich bis heute eine große Achtung vor diesem Mann. Leider habe ich seinen Namen vergessen. Und letztens, wie ich vor zwei Jahren in Wien war, habe ich ihn auch nicht mehr gesehen. Gut, das ist vielleicht per Zufall.
Also die Schule dann in Brüssel…Schule in Brüssel war für mich sehr leicht, weil ich ging in eigentlich eine Art von Hauptschule. Und alles, was dort war, das war für mich Kleingeld…konnte alles auswendig. Das alles wusste ich schon natürlich. Und nachdem ich dann Französisch und Flämisch…Flämisch habe ich auch gelernt und Französisch auch, und ich war dann sehr gut. Auf jeden Fall war ich dann im letzten…dann kamen die occupation. Wie die Deutschen dann kamen im Mai, am 10. Mai 1940, wurde Belgien überrannt, und die Schule war dann einige Wochen, vielleicht zwei Wochen, nicht mehr tätig. Nachher wurde die Schule dann beendet, und beim Ende der Schule war eine große Feierlichkeit und…am Ende des Schuljahres…ich meine, das war das Ende dieser Hauptschule. Das kommt mir vor…ich war vierzehn. Ich war damals vierzehn Jahre alt, das heißt, in der achten Klasse. Das war eine Art von Hauptschule. Und der hat mich gefragt, der Direktor, an dessen Namen ich mich sehr gut erinnern kann, ob ich nicht…er wird mir ein Schreiben geben an die höhere Schule, an die Mittelschule, denn er sieht, dass ich…er sieht an meinen Fähigkeiten, dass ich dazu befähigt bin, an die Mittelschule zu gehen. Da habe ich ihm gesagt: „Es tut mir sehr leid. Mein Vater wurde deportiert. Er ist jetzt in…wir haben nichts zum Leben, und ich muss arbeiten gehen. Ich habe aber keine Arbeitserlaubnis, und ich weiß nicht so genau, wie das sein wird, was da sein wird.“ Und dieser Direktor hat gesagt: „In zwei Wochen, komm’ zu mir. Ich werde schauen für dich.“ Und er hat mir eine Erlaubnis, eine Arbeitserlaubnis, besorgt und hat mich zu einem Bekannten, oder einem Freund, geschickt, um dort zu arbeiten. Und dieser Freund war der Direktor, oder Inhaber, einer großen Maschinenfabrik. Groß…ich meine, für deutsche Betriebe war das nicht groß. Es waren ungefähr 500 Angestellte, und wir haben da Werkzeugmaschinen gemacht. Ich habe mich dort sehr gut gefühlt und…nur leider wurde ich nicht als Arbeiter beschäftigt, sondern als Lehrling. Mein Lohn war lächerlich, aber ich war sehr zufrieden. Ich konnte arbeiten, ich hatte eine Beschäftigung, die mir sehr gut gefallen hat, und dort habe ich Karriere gemacht…eine wirklich gute Karriere.
1/00:34:35
LSY: Aber Ihr Stiefvater war schon aus Belgien deportiert worden?
HB: Ich komme gleich…vielleicht sprechen wir darüber. Ungefähr im Jahr…ja, im Sommer [19]41. Das heißt, im Jahre [19]40 wurde er deportiert, und die kamen nach Südfrankreich. Ich kann mich nicht so genau erinnern an den Ort…an der Riviera, an der Küste. Und von dort wurden sie weitergeschickt und noch in ein anderes Lager, immer in ein neues Lager. Zum Schluss kamen sie…im Sommer [19]41 waren sie in die Nähe von Bordeaux, und ein oder zwei Leute hatten uns besucht, die dort waren und die uns erzählt haben, wenn jemand kommt, mit Geld und hilft, kann man von dort flüchten. Und meine Mutter hat beschlossen, am Platz, wir fahren hin und schauen, dass man ihn frei bekommt. Natürlich waren wir sehr naiv und sehr unerfahren, und wir haben nichts…wir waren…wie soll ich sagen…wir waren naiv. Wir haben uns vorbereitet, wir haben alles verkauft, wieder. Das bisschen Geld…wir haben gewusst, wir gehen über die Grenze, und das bisschen Geld, das wir zusammengenommen haben, haben wir in dem Reisegepäck gut versteckt. Niemand soll es finden. Wir haben gewusst, es wird durchsucht werden. Wir haben das gewusst. Es war Sommer. Wir haben eigentlich nur das Nötigste mitgehabt. Wir haben nur zwei kleine…ganz kleines Gepäck gehabt. Weil der Mann, den wir kontaktiert haben, der uns rüberbringen sollte, der hat uns gesagt: „Nur Kleingepäck! Kein Großgepäck, weil das fällt auf.“ Und wir kamen an dem Abend schon…in den späten Abendstunden kamen wir an die Grenze, belgisch-französische Grenze, und Sie müssen verstehen, dass die…Belgien und Nordfrankreich war ein Kommando. Von den Deutschen war das ein Bezirk. Belgien und Nordfrankreich war eine…wie soll ich sagen…eine kommunale Einheit, eine Einheit, die ein General kommandiert hat. Wir wussten auch, dass die Belgier nach Nordfrankreich fahren können, nur mit Identitätskarte. Und wir haben uns drauf verlassen, und der Mann, der uns rüberbringen sollte, war auch…hat gesagt, es ist kein Problem, obwohl wir deutsche Pässe hatten. Wir haben deutsche Pässe gehabt. Aber in der Identitätskarte und im Pass war das große „J“ eingestempelt…als Jude. Und kaum waren wir an der Grenze, wurden wir festgenommen von der französischen Gendarmerie, und die waren sehr, sehr ekelhaft. Die haben uns dann nach Lille gebracht von der Grenze. Lille ist eine kleine Stadt, ich schätze ungefähr zwanzig, 25 Kilometer von der Grenze. Und die haben uns dann den Deutschen übergeben, der Gestapo. Die haben dann schon im Auto gesagt, die französische Gendarmerie: „Ihr kommt alle nach Dachau!“ Dachau war für die Leute ein Begriff. Die haben noch nicht gewusst, dass es weitaus Schlimmeres gibt wie Dachau. Wir kamen dorthin, und die Polizisten, das heißt die Gestapo-Leute, haben uns dann in das Gefängnis verbracht. Das war ein Gefängnis, ein früheres französisches Militärgefängnis, das aber zu den…von den Deutschen benutzt wurde. Und wir wurden dann eigentlich eingesperrt, meine Mutter bei den Frauen und ich bei den Männern natürlich. Und vorläufig haben wir gar nichts gewusst. Erst im Laufe der Tage habe ich schon gesehen, was dort vorgeht. Meistens waren es junge Leute in meinem Alter. Ich war damals sechzehn, so was. Und die kamen zum Verhör und kamen zurück als menschliche Lumpen. Schrecklich! Zerschlagen, zerschunden…und ich habe gewusst, was auf mich wartet. Ich war drauf vorbereitet, habe gedacht: „Was kann sein? Ich muss durch.“ Wir waren dort zwei, zweieinhalb Monate. Eines schönen Tages hat mich der Wärter abgeholt, und ich habe mir gedacht: „Nun, jetzt ist es soweit.“ Und dann kam ich in einen sehr großen Saal, meine Mutter war schon dort, und da war so eine Art…vorne war eine…so wie ein Gericht, und da in der Mitte war ein höherer Offizier. Und der hat uns dann…also hat scheinbar, ich weiß es nicht so genau, wie es war. Aber scheinbar war meine Mutter zuerst verhört worden und dann hat man mich verhört. Und ich habe die Wahrheit gesagt. Es war nichts zu verdecken.
1/00:40:53
Mein Vater ist in Bordeaux. Wir wollten eigentlich mit zu ihm, damit wir mit ihm zusammenleben können oder ihn befreien können oder so. Das war auch die volle Wahrheit. Er war dann mit der Aussage zufrieden und hat uns dann ein laissez-passer ausgestellt. Wissen Sie was ein laissez-passer ist? Laissez-passer ist ein französisches Wort für…lass…frei durchgehen. Das war sehr viel Geld wert, das laissez-passer. Und er hat uns noch eine Fahrkarte nach Brüssel gegeben und noch einen Soldaten beauftragt, uns mit dem Auto zum Bahnhof zu bringen. Also, luxuriöser kann es gar nicht sein. Und wir kamen dann in Brüssel mitten in der Nacht an. Kalt…es war…ich weiß nicht. Es musste ungefähr Februar gewesen sein, ich weiß es nicht so genau. Auf jeden Fall, wir kamen in Brüssel an, mitten in der Nacht, und es war Ausgehverbot, kein Mensch auf der Straße. Ja, es war damals…und wir hatten keinen Groschen. Nichts! Wir waren auch in Sommerkleidung eigentlich. Wir waren in leichter Kleidung, weil wir hatten kein Gepäck mehr. Und wir sind herumgestreunt…wie Landstreicher sind wir herum, bis uns ein Mädchen…ein leichtes Mädchen hat uns dann aufgegabelt…eine von dem leichten Gewerbe. Das Mädchen hat geglaubt, dass wir ein Paar sind. Und meine Mutter konnte nicht so gut Französisch, also habe ich dem Mädchen gesagt: „Schau, wir haben keine Unterkunft. Wir sind auch ohne Geld.“ Also habe ich ihr gesagt…da hat sie uns mitgenommen, dort wo sie gelebt hat. Ich weiß bis heute, wo das ist. Und sie hat uns dort beherbergt über zwei Wochen lang. Geschlafen und Wäsche gegeben und Essen gegeben, und sogar Fahrgeld hat sie mir gegeben, damit ich in die Arbeit fahren kann. Also, über und über…und meiner Mutter hat sie Wäsche gegeben und ein Bett und…besser kann es gar nicht gewesen sein. Von dann an ging ich wieder in derselben Fabrik arbeiten, und wir haben gewusst, dass…mit meinem Vater ist es momentan nichts.
LSY: Ihr konntet nicht dahin kommen?
HB: Später haben wir dann erfahren, dass von Bordeaux dann alle nach Gurs geschickt wurden. Gurs ist ein Lager in Mittelfrankreich…und von dort in ein Lager, ein anderes Lager in der Nähe von Paris. Und dort wurden alle…alle Deutschen wurden eigentlich nach Südfrankreich geschickt und interniert, weil man Angst gehabt hat, dass unter den…die belgische und französische Regierung hatte Angst gehabt, dass unter den Flüchtlingen, unter den jüdischen Flüchtlingen, sich deutsche Kollaborateure verstecken…Deutsche, die eigentlich die Invasion vorbereiten sollen. Das heißt, damals hat man sie parachutistes genannt. Das war der Ausdruck, obwohl sie ja natürlich nicht mit dem parachute heruntergesprungen sind, aber das war der…wie soll ich sagen…der Sammelname für die fünfte Kolonne. So hat das auch geheißen. Wissen Sie, was die fünfte Kolonne ist?
LSY: Ja.
1/00:45:01
HB: Nun, wie soll ich sagen…das war eigentlich das Projekt: Alle Menschen mit deutschen Pässen…und alle Juden hatten deutsche Pässe…alle internieren in Südfrankreich. Und dann, dieselben Deutschen eigentlich, die eigentlich die Gefahr waren, wurden später dann Juden, die man an die Deutschen übergeben hat. Das war die Regierung [François] Darlan. Obwohl sie ganz genau gewusst haben, was das bedeutet. Und das war auch so. Das ist es…das ist eigentlich, was…ja.
LSY: Aber der Stiefvater ist dann noch weiter deportiert worden?
HB: Er ist natürlich nach Auschwitz gekommen. Wir wissen nicht genau, in welchem Lager er war. Wir wissen es nicht mehr. Was wir wissen ist, in einem der französischen Lager stieß er zufällig auf meinen Onkel. Das heißt, auch mein Onkel war eigentlich inhaftiert worden in Frankreich. Wie er dort hingekommen ist, warum er dort hingekommen ist, weiß ich nicht. Wir wissen nur, dass er dort war und sich mit ihm getroffen hat. Die kannten sich natürlich. Entschuldigen Sie.
[Übergang/Schnitt.]
HB: Wie wir damals in dieser kalten Nacht geflüchtet sind nach Belgien, da gab es einige Gruppen, nicht nur wir. Und wie sich dann später, viele, viele Jahre später herausgestellt hat, war meine zukünftige Frau in einer von diesen Gruppen an demselben Abend, an demselben Weg, einige Kilometer weiter. Interessant.
LSY: Der Onkel hat den Vater im Lager getroffen--
HB: --im Lager getroffen, ja. Mein Onkel war, wie gesagt, sehr unbeholfen, er war so ein introvertierter Künstlertyp. Und mein Stiefvater war technisch sehr, sehr, sehr begabt, und er hat immer Öfen aus Konservenbüchsen gebaut, dort, hat man mir erzählt. Alles Mögliche: Er hat Besteck angefertigt aus Konservenbüchsen, die sie dort gehabt haben…um das Leben zu erleichtern. Er war in jedem Fall ein Mann, der sich zu helfen wusste. Das nur nebenbei.
LSY: Wie kam es eigentlich, dass Sie nicht deportiert wurden?
HB: Ja, das ist die Geschichte, die ich jetzt erzählen möchte. In dieser Maschinenfabrik…unsere Maschinenfabrik, die hieß Mondiale, und die Maschinen, die wir gebaut haben, kamen an die deutsche Armee. Für die…eigentlich für die Luftwaffe wurde das gebaut. Wieso weiß ich das so genau? Weil…wie soll ich sagen…ich habe mehr Kenntnisse gezeigt wie die anderen jungen Arbeiter und kam dann schnell in die Kontrollabteilung. Das heißt, die Abteilung, wo alle Maschinen, als sie fertig waren, kontrolliert wurden, bevor sie dann eigentlich angestrichen wurden…mit Lack… lackiert wurden. lch wurde dann der Ober…der Kontrolleur über alle Kontolleure, denn die Maschinen wurden genau kontrolliert in allen möglichen Phasen, allen möglichen…wie soll ich das sagen…alles, was die Maschine können soll und Präzision zeigen soll und so weiter. Und ich musste dann die Formulare unterschreiben, dass die Maschine gut, also in Ordnung ist…mit der Nummer und so weiter. Die wurden nummeriert. Und interessanterweise kamen dann Offiziere aus der Luftwaffe, um die Maschine zu empfangen. Und ich musste einige Male die Maschinen präsentieren und denen vorführen, dass alles in Ordnung ist. Und ich…dumm. Ich war immer sehr dumm und naiv, habe deutsch gesprochen, ohne Problem, was ich nicht tun hätte sollen. Und ich wurde deswegen nicht…in der Maschinenfabrik kamen jedes Mal aus einer anderen Abteilung von der deutschen Verwaltung Beauftragte, um Fachleute nach Deutschland zu bringen. In der Fabrik haben meistens Fachmonteure gearbeitet, die sich mit Maschinenbau auskannten. Und diese Leute…die deutschen Unternehmen waren interessiert, Fachleute zu bekommen.
1/00:50:30
Und jedes Mal kamen…ich weiß nicht, jedes Mal…alle paar Monate…sagen wir zwei, drei Monate, kamen zwei, drei Leute, um einige Leute zu bekommen…abzunehmen von unserer Fabrik, um die nach Deutschland zu schicken. Meistens waren es jüngere Leute, die keine Familie hatten, keine Frau und Familie und so. Ich war natürlich darunter, weil ich war auch nicht verheiratet. Ich wurde eingestuft als unabkömmlich. Der Direktor, das heißt, der Chefingenieur, war eigentlich interessiert, mich zu behalten, weil er hat genau gewusst, dass ich mit den deutschen Offizieren ganz frei spreche und ich…die deutschen Offiziere waren begeistert, dass sie jemanden haben, mit dem sie frei sprechen können und den sie alles fragen können, was sie eigentlich wissen wollten. Und so kam es, dass die Fabrik selbst mich geschützt hat. Natürlich gab es die Gefahr, dass ich auf der Straße geschnappt werde. Das war tagtäglich. Die Fabrik war in Vilvoorde. Das war eine kleine Stadt nicht weit von Brüssel. Und ich musste jeden Tag in der Früh, ganz zeitig in der Früh, mit der Straßenbahn fahren. Ich bin rausgefahren, und es waren immer Razzien. Und ich habe das schon gelernt. Ich bin immer neben dem Fahrer gestanden…neben dem Fahrer von der Straßenbahn, und wenn ich dort eine Ansammlung gesehen habe…es war zeitlich in der Früh noch finster meistens. Wenn ich eine Ansammlung gesehen habe, nicht weit, hat er angehalten, und ich bin ausgestiegen. Und so kam ich durch. Oft waren die Ansammlungen bei den Haltestellen, wo schon deutsche Soldaten waren, die eigentlich nicht Juden speziell gesucht haben, sondern Waffen vielleicht, oder irgendwelche anderen Verdächtigten, oder so. Ich weiß es ja nicht. Jedenfalls war ich bestimmt…ich hatte keine falschen Papiere. Ich hatte meine Identitätskarte mit dem „J“ drinnen, also auf jeden Fall ein Treffer. Wissen Sie, was Treffer ist?
LSY: Und Ihre Mutter ist auch durchgekommen durch den Krieg?
HB: Meine Mutter hat immer drauf geschaut, dass unsere…wir hatten immer nur Zimmer, kleine Wohnungen, ganz winzige Wohnungen…dass unsere Wohnung nicht dort ist, wo schon andere Juden leben. Weil wir wussten, das ist die Gefahrenzone. Wenn sie nicht uns suchen, suchen sie andere, und bei der Gelegenheit finden sie uns auch. Das heißt, sie war immer damit beauftragt, neue Unterkünfte zu finden. Ich weiß nicht…in den drei Jahren, seit wir vom Gefängnis rausgekommen sind, hatten wir ungefähr sechs, sieben Wohnungen, ungefähr. Und wir hatten wenig Gepäck. Wir hatten nichts. Wir hatten keine Möbel, nichts…Zigeuner nun. Dummerweise hatte ich eine Verletzung am Fuß dann. Und diese Verletzung musste operiert werden. In den offiziellen Spitälern durften keine Juden akzeptiert werden, in Brüssel. Alle Juden wurden ins jüdische Spital geschickt. Und wir wussten natürlich von vornherein, dass ein jüdisches Spital eine Gefahrenzone ist. Wir hatten uns immer ferngehalten von Juden, und wir hatten großen Erfolg damit. Wir haben auch den Stern nie getragen, ich nicht und meine Mutter nicht. Wir hatten nie den Stern an, weil wir wussten, in dem Moment, wo du den Stern hast, bist du verfallen. Obwohl da eine große Strafe drauf stand, wenn Juden keinen Stern trugen. Aber wir waren schon ein bisschen gebrannter. Wir wussten schon, was gut ist und was schlecht ist.
1/00:55:16
Meine Mutter musste dann, wie ich dann zu Hause gelegen bin…und ich konnte nicht unterkommen im Spital, musste sie zur jüdischen Gemeinde gehen…zur Kultusgemeinde. Und sie hat mir einen Platz besorgt im jüdischen Spital, aber bei der Gelegenheit wurde sie geschnappt, weil sie sich dort herumgetrieben hat, in der jüdischen Gemeinde. Wir haben gewusst, das darf nicht sein. Wir können nur solange uns verstecken in der Menge, solange wir mit den Juden nichts zu tun haben. Und bei der Gelegenheit wurde sie geschnappt. Ich wusste das schon. Wieso? Ich war damals schon im Spital, wie sie geschnappt wurde. Am ersten oder zweiten Tag war ich im Spital, wie sie geschnappt wurde. Und es war nicht viel zu helfen. Nach ungefähr einem Monat wurde sie mit dem Transport nach Auschwitz-Birkenau transportiert, aber sie hat mir einen Zettel geschrieben und aus dem fahrenden Zug rausgeworfen, und den Zettel habe ich dann zufällig bekommen. Irgendjemand in Deutschland hat den Zettel gefunden, hat ihn mir geschickt. Und so wusste ich, dass sie deportiert ist. Als ich im Spital war, gab es eine junge, sehr hübsche Krankenschwester, die dann meine Frau wurde…später.
Dann kam die Befreiung. Alles änderte sich, und meine damalige Liebe sagte: „Das ist keine Arbeit für dich. Du kommst jeden Tag schmutzig und schwarz zurück von deiner Arbeit. Du musst eine andere Arbeit finden.“ Ich habe auch nicht gut verdient. Mein Armenverdienst war sehr mies. Zufälligerweise kam ich zu einem Goldschmied, der bei mir eigentlich einfache Maschinen bestellt hatte. Die Goldschmiede, die früher Goldschmiede waren, hatten keine Werkzeuge mehr. Sie konnten nicht arbeiten, weil sie nichts hatten. Die einfachsten Geräte und Maschinen, die sie brauchten, hatten sie nicht. Also lernten die mich kennen, und ich habe denen aus Nähmaschinen oder aus Kaffemühlen irgendwelche Sachen improvisiert, damit sie weiterarbeiten können. Und ich habe zufällig gesehen, wie einer von denen arbeitet. Und es hat mir sehr gut gefallen. Warum? Einer der Gründe, ich kann es heute sagen: Ein Maschinenbauer ist angewiesen auf alle möglichen Hilfen von anderen Fachleuten, die ihm behilflich sind. Zu der Fräsmaschine, zu den Drehbänken, zu den Bohrmaschinen…da kann ein normaler Maschinenbauer nicht dran. Das sind alles Spezialmaschinen. Das heißt, wenn man ein Teil gießen muss, dann musste man das Modell herstellen. Dann ging es zum Gießer, und vom Gießer ging es dann…also, das war eine Kette von Fachleuten, die man eigentlich als Maschinenbauer benötigte. Und da habe ich beschlossen, ich werde kein Maschinenbauer mehr sein, sondern ich sah, wie der Goldschmied von A bis Z alles selbst macht, und das hat mir sehr gefallen.
LSY: Und für das ganze Produkt verantwortlich ist--
HB: --angefangen vom Gold…er ist gegangen, hat das Gold geschmolzen, hat das Gold als Draht gemacht, oder als Plan, und hat angefangen, zu biegen und zu machen, bis es dann fertig war. Und das hat mir so gefallen. Und dann bin ich Goldschmied geworden, und seither bin ich es. Und dann kam natürlich das Problem…der eine Bruder meiner Mutter…ja, meine Mutter kam zurück aus Auschwitz.
1/01:00:15
LSY: Sie hat überlebt?
HB: Ja, weil sie im letzten Transport war. Der Transport kam nach Auschwitz im August, und im Januar oder Februar wurde Auschwitz bereits geräumt. Und so kam es, dass sie durchgehalten hat, obwohl sie die Älteste war dort. Sie war im Jahr [19]43 oder [19]44 schon 43 Jahre alt, während die anderen in der Altersklasse längst getötet worden waren--
LSY: --sofort in die Gaskammern--
HB: --diese Altersklasse…diese Generation hielt nicht mehr durch. Nur die Jungen und Kräftigen konnten sich durchschlagen. Aber die Älteren…das war sehr gefährdet. Und sie hat es durchgehalten, und sie hat mir auch dann erzählt, wie sie zurückkam. Natürlich haben wir dann wieder zusammengewohnt, und sie hat mir dann ziemlich viel erzählt aus dem Lager. Unter anderem wurde sie zweimal durch den [Josef] Mengele geschickt, durch den Dr. Mengele. Und sie war schon sehr…wie soll ich sagen…ein gebranntes Kind. Und die Frauen mussten nackt vor ihm paradieren, aber sie hat gesehen, dass der bei dieser Aussortierung…das war eine Sortierung eigentlich. Zwischen diesen Leuten, die noch gesund erschienen, und diesen Leuten, die schon nicht mehr gesund erschienen, hat er eine Selektion gemacht. Und sie hat gesehen, beim ersten Mal, dass er nicht auf die Frauen schaut…nicht ins Gesicht, sondern nur auf die Knie, auf die Füße. Und so hat sie ihr Kleid, oder was sie damals gehabt hat…ihren Mantel, den sie hatten, hat sie unter dem Arm gehabt und hat den so getragen, dass das eine Knie verborgen war…das eine Knie, das der Mengele eigentlich von der Seite aus sehen sollte. Sie wusste nicht, natürlich, was er da sah an dem Knie, aber es kann sein, dass bei schwachen Leuten die Knie bereits geschwollen sind, oder…ich weiß es nicht so genau. Auf jeden Fall kam sie durch.
LSY: Sie war eine sehr starke Frau, Ihre Mutter?
HB: Sehr stark! Ein Typ zum Überleben. Sie ist dann mit uns zusammen…bevor wir dann nach…inzwischen kamen englischen Soldaten nach Brüssel. Und wie es das Schicksal so wollte…einer von den englischen Soldaten war der Bruder meiner Frau…meiner Geliebten damals, sie war noch nicht meine Frau. Und die Freude war groß. Er war nach Palästina emigriert, und von hier aus hat er sich zur britischen Armee gemeldet und war britischer Soldat. Und da hat er ihr erzählt, da gibt es noch einen Bruder und noch eine Schwester. Damit war die Sache abgesprochen, dass wir nach Palästina auswandern, weil da hat sie eine Schwester und noch zwei Brüder. Wunderbar. Sie hatte doch niemanden mehr. Sie war ganz allein. Keine Eltern und keine…alle Eltern und alle Geschwister waren weg. Und bevor wir dann nach Palästina auswanderten, haben wir geheiratet. Und so kamen wir, und meine Mutter mit uns. Und…wie soll ich sagen? Die ersten zehn Jahre waren mies. Nachher ging es bergauf.
LSY: War es finanziell auch sehr schwierig?
HB: Sehr, sehr schwer.
LSY: Wann seid ihr angekommen?
HB: Im Frühjahr [19]48.
1/01:04:35
LSY: Kannst du dich noch erinnern, was dein erster Eindruck damals war, als du angekommen bist?
HB: Ja. Eigentlich war der Eindruck sehr…mein Schwager, das heißt der Bruder meiner Frau, hat gewusst, ich bin ein sehr guter Goldschmied, und hat mir eine Arbeit besorgt. Natürlich hat er nicht gewusst, was für Arbeit für mich gut ist und was nicht. Er hat mir eine Arbeit besorgt und am nächsten…wir wurden zuerst interniert, als wir kamen, aber gleich am ersten Tag bin ich durch den Zaun durch in die Arbeit. Und er hat mir eine Arbeit besorgt in einer Werkstatt, die eigentlich nur billigste Serienarbeit herstellt, und das war gar nicht mein Ding. Ich war trainiert auf high jewelry, aber das Geld muss sein. Ich habe dort…wie lang…vielleicht eineinhalb Monate gearbeitet, bis der Chef gesagt hat: „Du bist nichts für mich. Geh’!“ Weil die anderen Kollegen haben jeden Tag zehn Ringe von Anfang bis Ende fertiggestellt, und ich habe vielleicht einen gemacht, weil mein training war anders. Von da an habe ich gewusst, das geht nicht. Und langsam, langsam bin ich dann dorthin gekommen, wo ich eigentlich hingehöre. Und alles andere ist…wie soll ich sagen…eine Geschichte des Lernens und des Vorwärts-Kommens in der…eigentlich ein Selbststudium, weil eine Ausbildung, eine fachliche Ausbildung, habe ich nie bekommen. Ich habe immer nur alles gelernt, was ich von allein gelernt habe. Und das ist, glaube ich, der beste Lehrer.
LSY: Und wo habt ihr gelebt? In Tel Aviv, von Anfang an?
HB: Nein, am Anfang haben wir in Haifa gelebt, aber in Haifa waren die Ansprüche für Schmuck viel niedriger. Das heißt: Haifa ist eine Arbeiterstadt eigentlich gewesen, damals. Heute weiß ich nicht mehr. Und den Schmuck, den dieses Publikum benötigte, der war absolut nicht der, den ich geschaffen habe, sodass es nicht lange gedauert hat, bis meine Kunden, meine Geschäftskunden, eigentlich in Tel Aviv waren und dass ich jede Woche ein- oder zweimal nach Tel Aviv fahren musste, um Bestellungen aufzunehmen und so weiter. Ich habe damals mit Geschäften gearbeitet, mit Händlern…keine Privatkunden. Und dann habe ich gesagt: „Wozu das Ganze?“ Dann nach dem ersten Krieg bin ich…ich war ja bei der Armee dann, im Sinai-Feldzug. Und wie ich dann befreit wurde, sind wir dann schnell nach Tel Aviv. Meine Frau hat gut zu mir gehalten. Sie hat mir immer geholfen und immer…sie war immer für mich da.
LSY: Gemeinsam habt ihr euer Leben dann hier aufgebaut?
HB: Wir haben unser Leben aufgebaut.
LSY: Hat die Mutter es noch geschafft, sich hier einzuleben?
HB: Ja, meine Mutter war auch eine interessante Geschichte. Sie hat eine Arbeit bekommen. Sie konnte natürlich nicht Hebräisch und hat in der Arbeit--
LSY: --aber ihr ja auch nicht, am Anfang, oder?
HB: Nein. Ich konnte nicht Hebräisch. Dann später hat sie gelernt…etwas, auch rudimentaire…ganz, nur das basic. Sie hat eine Stelle angenommen bei einem kranken Mann, als Pflegerin, und sie hat dort gewohnt. Auch ein Mann aus Österreich, der hier schon etwas Vermögen gemacht hat, und der konnte nicht mehr arbeiten. Er war schon kränklich, und bei ihm hat sie dann gewohnt und ihn versorgt. Und das war eine gute Lösung. Bis eines Tages, kam ein Mann aus Amerika, ein früherer Freund von meiner Mutter, der sie kannte, wie sie noch ein Mädchen war, noch vor ihrer Ehe. Und der hat ihr gesagt: „Komm’, heiraten wir.“ Und da hat sie ihn geheiratet nach Amerika, nach Texas, und das war ein großer Flop…eine katastrophale Ehe, bis sie dann krank wurde. Sie hat Krebs bekommen. Und wie sie wusste, sie hat Krebs, hat sie beschlossen, sie kommt zurück zu uns.
1/01:10:05
Sie hat dann noch einige kurze Monate bei uns gelebt, bis sie dann eigentlich gestorben ist an Krebs. Das war im Jahr…ich kann mich genau erinnern. Das war im Jahr 1963, weil im Jahre [19]64 ist sie gestorben. Und meine Mutter war, wie gesagt, sehr lebenserfahren, und sie hat gesagt: „Es werden noch viel jüngere, viel schneller vor mir sterben.“ Wie wir gesprochen haben, sie wird bald sterben, hat sie den Satz gesagt. Und keine zwei Monate später hat man den [John F.] Kennedy ermordet…viel jünger und viel schneller gestorben. Sie hat wieder recht behalten.
LSY: Eine weise Frau.
Ende von Teil 1.
Teil 2
LSY: Kann ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen?
HB: Natürlich.
LSY: Ich gehe noch mal kurz zurück nach Wien. Ihre Familie damals in Wien, hat man sich sehr als Österreicher gefühlt? Können Sie sich erinnern?
HB: Ja! Das heißt, die Familie, mit der ich Kontakt hatte, war sehr, sehr patriotisch. Wir waren Österreicher jüdischen Glaubens, nicht verkehrt. Es gab einen anderen Teil meiner Familie, die waren nicht so, aber mit denen hatte ich einfach keinen Kontakt. Da gab es noch einen interessanten Mann in meiner Familie, den ich damals nur…ich war damals ein Kind. Ich kannte ihn nur als einen Mann, dem ich eigentlich ähneln wollte. Ich wollte auch so werden wie er. Er war ein Physiker. Er war ein Wissenschaftler, ein Wissenschaftler der Physik. Ich war damals noch sehr klein und wie er…er ist als überzeugter Kommunist nach Russland gefahren, um dem Aufbau des kommunistischen Vaterlandes zu helfen. Und sehr bald wurde er dort interniert, geschnappt etc., etc., bis Albert Einstein für ihn eintrat und den damaligen Stalin…also interveniert hat, und aufgrund dieser Intervention hat man die verhafteten Wissenschaftler, die jüdischen Wissenschaftler, freigelassen, aber man hat sie der Gestapo übergeben. Damals gab es noch die Gestapo. Also von dem Regen in die Traufe. Aber er hat überlebt, und er kam dann her, und ich war überglücklich, ihn hier zu treffen, weil er war dann wirklich eine anerkannte Persönlichkeit, der auch ein Buch geschrieben hat. Und ich habe das Buch zu Hause.
LSY: Können Sie sich an ihren Freundeskreis damals in Wien erinnern? Waren das hauptsächlich andere jüdische Jungs, oder hatten Sie da auch christliche Freunde?
HB: Mein bester Freund war Halb-Jude, und ich kann mich genau erinnern. Er hat geheißen, Peter Flatter, und er war der Enkelsohn von einem reichen Unternehmen. Die haben geheißen, der Zuckerlkönig. Die haben damals schon, in den [19]20er-, [19]30er-Jahren, Filialen gehabt in ganz Österreich, wo sie Zuckerl verkauft haben…Süßigkeiten. Und mit ihm war ich sehr gut befreundet, und zu ihm bin ich immer spielen gegangen, weil ich hatte keine Spiele. Wir waren zu arm. Und er hatte alles, was das Herz begehrt. An ihn kann ich mich erinnern, aber er war Halb-Jude. Das heißt, seine Mutter war eine Jüdin und sein Vater Christ. Aber die waren separiert, und er, mit seiner Mutter, die haben in einer wunderschönen Villa im Zentrum Wiens gewohnt…keine Probleme mit Geld gehabt.
LSY: Hatten Sie zu Ihrem Vater irgendeinen Kontakt?
HB: Zu meinem biologischen Vater? Bis wir ausgewandert sind, ja. Aber ich war in Technik verliebt. Blöd, aber was kann man machen?
LSY: Was haben Sie so in Ihrer Freizeit gemacht als Kind in Wien?
HB: Als Kind?
LSY: Vor dem Anschluss noch.
HB: Vor allem habe ich Bücher über Elektrotechnik gelesen, aber in Brüssel habe ich dann keine Bücher gehabt…wir hatten keine Bücher. In Brüssel habe ich dann französische Literatur ein bisschen genossen. In der Schulbibliothek habe ich alles gelesen, was da war. Und auch die zweieinhalb Monate, wie ich im Gefängnis war, habe ich auch Bücher bekommen und konnte mich wirklich weiterbilden in der französischen Literatur. Das war wirklich nötig und gut.
LSY: Können Sie sich noch erinnern, ob Sie auch vor dem Anschluss schon mit Antisemitismus Erfahrung gemacht haben, in Österreich? Ist jemals irgendetwas passiert…Kommentare?
HB: Nein, insofern nichts passiert, weil ich war unter den…in meiner Altersgruppe war ich sehr stark, und mich hat man nie behelligt, weil die haben gewusst, da kommt Kläppe nachher. Da gab es nichts.
2/00:05:13
LSY: Hatte man das Gefühl damals, dass die Österreicher schon sehr antisemitisch waren?
HB: Ja. Ich meine, der Bundeskanzler war damals [Kurt] Schuschnigg. Und alle Juden haben zu ihm gehalten. Obwohl er ein Rechts-Nationaler war, gab es natürlich keine andere Möglichkeit für die Juden. Alle haben für ihn gewählt, obwohl seine Partei…waren auch lauter Schwarze. Ich weiß nicht, ob Sie so bewandert sind?
LSY: Ja, doch!
HB: Es war…wie soll ich sagen? Die reichen und gescheiten Juden sind geflüchtet, aber die עמך [hebr., Abkürzung für „Amcha Israel“, das Volk Israel], die nichts hatten, die sind geblieben.
LSY: Aber waren Sie damals überrascht über die große Begeisterung der Österreicher, als die Nazis einmarschiert sind?
HB: Ja! Also, ich persönlich war sehr…wie soll ich sagen…überrascht über diesen Wandel, über diesen extremen Wandel. Das war nicht etwas…ich meine, ich habe gewusst, jetzt ist alles anders, jetzt kommen die Nazis und so. Ich habe das gewusst, aber ich hätte mir nie gedacht, dass die Österreicher, die Wiener, derart begeistert sein können von so was. Ich meine, man hat ihnen das Vaterland weggenommen. Wie kann das sein? Und die haben ihn wirklich wie den Messias empfangen. Genau so! Wenn heute der Messias herkommt, kann man ihn nicht besser empfangen.
LSY: Sie waren am Heldenplatz und haben das--
HB: --ich war am Heldenplatz. Ich habe das alles miterlebt. Das war ein Erlebnis, das man nie vergessen wird. Und ich bin sicher, dass die Leute, die damals am Heldenplatz waren und die mitgejubelt haben, soweit sie noch leben, dass sie das bis heute wissen…dass sie sich daran erinnern. Aber für sie war das natürlich ein [unklar], für mich war das ein Schock, eigentlich. Wie können österreichische Bürger so glücklich sein, dass man denen das Vaterland wegnimmt? Ich habe das gewusst! Ich war ein kleiner Junge. Ich habe das gewusst. Man nimmt denen das Vaterland weg. Und ich konnte das nicht verstehen. Ich meine, das war eigentlich ein…wie soll ich sagen…eine Lehre, die man eigentlich…wenn man als junger Mensch so etwas miterlebt, das bleibt das ganze Leben, das Nicht-Glauben an die Politik, das Nicht-Glauben an das, was die Leute sagen, was in der Zeitung steht. Das ist mir bis heute geblieben. Ich bin…anti-Politik. Ich glaube nicht, was man schreibt und was man sagt. Das ist für mich alles nur leeres Geschwätz, weil…vielleicht deswegen. Ich weiß es nicht.
LSY: Und nach dem Anschluss dann, hatte man Angst, auf die Straßen zu gehen?
HB: Ja, natürlich. Ich meine, ich als Kind hatte keine Angst, aber die Juden haben vermieden…vor allem, die arme Klasse, zu der wir gehört haben, die haben nichts zu verlieren gehabt. Die Reichen, die haben sehr schnell alles verkauft und alles…die waren schrecklich…ich meine, die Leute, die Geschäfte gehabt haben, oder Unternehmen, die wurden arisiert. Sie wissen, was das bedeutet? Und die waren auch unter schrecklichem Druck. Ich kann das verstehen. Aber wir haben eigentlich nichts zu verlieren gehabt. Wir haben nur geschaut, unser nacktes Leben zu retten.
LSY: Haben Sie damals schon verstanden, wozu die Nazis fähig sein werden?
HB: Nein. Wir haben das nicht gewusst. Wir haben nur gewusst, dass die Juden verfolgt werden. Aber interessanterweise, wie wir dann ein Monat lang in Aachen und in Köln waren, haben wir den Antisemitismus viel weniger virulent gespürt.
LSY: Als in Wien noch?
HB: Als in Wien. In Wien war es wirklich krass. Und dort war es irgendwie akzeptiert. Scheinbar haben sich die Leute dran gewöhnt, oder…ich weiß nicht genau warum. Auf jeden Fall waren die überhaupt nicht…der Antisemitismus war nicht so virulent, war nicht so ausgeprägt…muss ich sagen.
LSY: Interessant.
2/00:10:26
HB: Auch alle meine Erlebnisse, die ich hatte, mit den Gestapo-Leuten persönlich, waren alles gute Erlebnisse. Die haben sich alle mir gegenüber fair benommen. Und wenn ich dasselbe gehabt hätte in Wien, bin ich sicher, dass…ohne große Schläge wäre ich nicht davongekommen. Die waren alle irgendwie…päpstlicher als der Papst. So meine ich das…kann man so ausdrücken. Ich weiß es nicht. Die wollten sich beweisen oder…ich weiß es nicht.
LSY: Ja, das haben mir viele aus Wien erzählt. Wann haben Sie Wien verlassen? War das noch vor der Reichskristallnacht, oder waren Sie da noch in Wien?
HB: Nein, da war ich noch da. Nachher! Die Kristallnacht war im November. Das muss ungefähr Ende November, Anfang Dezember gewesen sein, weil laut meiner Erinnerung sind wir über die Grenze am…ganz Ende Dezember gegangen…ganz am Ende, 30. oder 29., ich weiß es nicht so genau. Auf jeden Fall muss es ungefähr Ende…dass ich noch zur Schule ging und so.
LSY: Haben Sie noch Erinnerungen an die Reichskristallnacht?
HB: Nein, ich weiß nur, mein biologischer Vater musste…man hat ihn festgenommen, dass er die Straße waschen muss, weil die Straßen waren vollgeschmiert mit Propaganda. Sie wissen das?
LSY: Ja, aber erzählen Sie ruhig.
HB: Der Schuschnigg, wie er schon gewusst hat, dass die Deutschen einmarschieren würden, wenn er nicht nachgeben wird, hat in der Schnelle eine Volksbefragung organisiert. Und zu dieser Volksbefragung musste er ganz schnell Propaganda schaffen. Und seine Leute haben dann überall an die Wände und auf die Straßen Propaganda geschmiert…alles Mögliche, mit weißer Farbe und so. Und wie die Nazis dann kamen, holten sie die Juden aus ihren Wohnungen, und die mussten dann das abwaschen…abschürfen, soweit das ging. Und daran erinnere ich mich, dass mein biologischer Vater auch dabei war. Dass man ihn auch als Opfer genommen hat, und er musste auch knien und auch reiben. Als Strafe ist es nicht so gefährlich, kann ich sagen. Was man dort in Auschwitz erlebt hat, war ganz anders…was mir meine Mutter erzählt hat…ganz, ganz anders.
LSY: Hat ihr biologischer Vater den Krieg überlebt?
HB: Nein. Er wurde deportiert, erst nach Polen und dann nach Russland.
LSY: Und auch die Großmutter, mit der sie damals--
HB: --ja. Wir wissen es nicht so genau, aber was wir gehört haben von allen, wurden die jüdischen Wiener Familien nach Lublin gebracht, ins Ghetto. Und dort wurden sie sehr ungern aufgenommen von den dortigen Juden. Natürlich mussten die Lubliner Juden ihre Wohnnungen teilen mit den Neuen, die nichts hatten. Ich kann die auch verstehen, dass man sie nicht mit offenen Armen empfangen hat.
LSY: Also haben eigentlich nur Sie und Ihre Mutter von Ihrer Familie überlebt?
HB: Und der jüngste Sohn von meiner Familie. Der ist schnell als junger Mann…er war damals 27 oder so, er ist in die Schweiz geflüchtet, allein, und von dort aus nach Chile ausgewandert. Und er hat den Krieg überlebt, aber ich hatte mit ihm keinen Kontakt.
LSY: Können Sie sich noch erinnern, ab wann Sie angefangen haben zu verstehen, dass es diese Vernichtungslager und so gibt? Hat man das noch im Krieg, am Ende des Krieges, gewusst? Oder ist das erst nach dem Krieg alles rausgekommen?
HB: Ja. Das mit den Lastautos…dass man die Juden in Lastautos verfrachtet und dort vergast, das haben wir gehört. Dass es Lager gibt, in denen die Juden Schwerstarbeiten machen, hat man auch gewusst, aber das es Lager gibt, wo das Ziel ist…Vernichtung, das haben wir nicht gewusst. Das haben wir nicht gewusst. Wir haben gewusst, dass die Leute sterben von Hunger und von Krankheiten. Das haben wir gewusst, aber dass es eine planmäßige Vernichtung gibt…ich habe es nicht gewusst…das heißt, erst nach dem Krieg.
LSY: Als Sie diesen Zettel von Ihrer Mutter von dem Zug bekommen haben, war Ihnen Auschwitz damals schon ein Begriff?
HB: Nein. Sie hat mir geschrieben, glaube ich: „Wir fahren nach Osten.“ Und alle haben gewusst, dass die nach Osten kommen. Aber genau…das haben wir nie gewusst. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, den Namen Auschwitz gehört zu haben.
2/00:16:19
LSY: Bevor Sie nach Palästina eingewandert sind, war jemals davor in Ihrer Familie Zionismus ein Thema? Hat man da schon mal drüber gesprochen?
HB: Ja, interessanterweise. Mein Stiefvater war doch ein Ingenieur, und der hatte einen guten Freund, einen sehr guten Freund, der war…ich weiß nicht, was der berufswegen gemacht hat. Er war jedenfalls ein Sportler, und der kam zur Makkabiade im Jahr [19]35 hierher. Und was er meinem Vater von Palästina, vom damaligen, erzählt hat, war Antizionismus. Er hat ihm die Suppe sauer gemacht…hat ihm die Suppe versalzen. Das heißt, mein Vater hat ein besonders negatives Bild bekommen von seinem Freund.
LSY: Was hat der Freund erzählt?
HB: Dass ein Handwerker, der etwas macht, muss mit dem Messer in der Hand seinen Lohn verlangen. Es kann sein, dass es mehr oder weniger der Wahrheit entsprochen hat. Ich weiß es nicht…kann sein. Im Allgemeinen…damals hat man sie Jeckes genannt…haben die Jeckes einen Namen gehabt…die sind nicht…wie soll ich sagen…überlebensfähig. Man kann von denen alles wegnehmen. Man braucht sie nicht zu bezahlen. Sie benehmen sich wie die Herren mit der Krawatte und mit dem Jackett. Und vielleicht war es auch so. Ich weiß es nicht. Die Damen waren mit Hut und Handschuhen bekleidet. Das war hier ein anderer…denen sind die Augen ausgegangen, den Frauen hier. Jedenfalls war das für die hiesige Bevölkerung etwas Neues, als die Juden aus Deutschland oder aus Österreich kamen. Außerdem waren die viel gebildeter und viel – was mich betrifft – musikalischer. Ich meine, ich bin sehr mit Musik aufgewachsen.
LSY: Sind Sie in Wien auch viel in Konzerte--
HB: --nein, nicht in Konzerte. Ich habe allein…mein Onkel war doch ein Geiger. Und ich musste Geige lernen. Das war ein täglicher Krieg. Inzwischen…die Geige habe ich weggelegt, aber seit ungefähr 25 Jahren habe ich ein Klavier zu Hause, und ich übe täglich…beinahe. Und ich komme nicht über das hinaus, was ich gerne möchte. Gestern war ich in einem wunderbaren Konzert…wunderbar. Ich gehe sehr viel ins Konzert, sehr viel. Am Samstag war ich in Jerusalem, in En Kerem. Wenn Sie die Gelegenheit haben und sich interessieren…wunderbar. Dort gibt es einen Mann, der sucht immer die besten Kräfte.
LSY: In diesem--
HB: --in dieser alten Villa.
LSY: In dieser alten Villa…dort war ich schon zweimal zu einem Konzert. Ja, wunderschön.
HB: Ach, wunderbar, nicht? Das ist auch eine Atmosphäre dort.
LSY: נכון [hebr., das stimmt].
HB: Wunderbar.
LSY: Ja, gute Akustik in dem Raum.
HB: Ja, am Samstag habe ich einen Platz in der ersten Reihe bekommen. Ich habe die Pianistin nicht aus den Augen gelassen…versucht, von ihr zu lernen.
LSY: Ihr Vater hatte dann kein besonders gutes Bild von Palästina?
HB: Nein. Entschuldigung!
2/00:20:20
[Übergang/Schnitt.]
Er hat sich schon damals mit der modernen Technik ausgekannt. Er war als junger Mann beschäftigt bei Siemens-Schuckert. Das war die österreichische Siemens-Stelle, und die waren damit beschäftigt, Televisionen zu entwickeln…Televisionsgeräte. Und er war dabei, mittendrin damals, bis man ihn als Juden entlassen hat. Dann wurde er selbstständig, hat ein Büro aufgemacht. Und, wie gesagt, wie dann der Anschluss kam, hat er, ich glaube, ein oder zwei Projekte am Laufen, und das war alles verfallen. Das ganze Geld, was er reingesteckt hat, war nichts mehr. Die haben genau gewusst, was zu machen. Und er hat auch ein Motorrad gehabt, was er geliebt hat. Mit dem Motorrad ist er mit meiner Mutter überallhin gefahren: nach Italien, nach Deutschland, nach Frankreich…wo es nur ging. Auch in Österreich haben sie jede Woche Ausflüge gemacht. Er war ein guter Österreicher, das muss man sagen.
LSY: Ja, das waren ja viele. Als ihr dann nach Palästina gekommen seid, hattet ihr viel Kontakt mit anderen Deutschsprachigen? War man da in so einem Kreis?
HB: Nein. Wir kamen als einzige Familie, die deutsch sprach. Was heißt Familie? Meine Frau und ich und mein Sohn.
LSY: Der wurde noch in Belgien geboren?
HB: Ja. Im Gegenteil. Wir kamen in ein Übergangslager, das heißt Kirjat Motzkin. Das war so ein Übergangslager, wo wir in Zelten gewohnt haben. Und er sprach natürlich…mein Sohn sprach französisch und deutsch. Aber meine Frau sprach nicht gut französisch. Er sprach immer nur deutsch mit seiner Mutter, mit meiner Frau. Und als die anderen Kinder das gehört haben, haben sie ihn gerufen: „Hitler“. Und er war ein besonders starker Junge, und jeder hat bekommen von ihm. Alle Mütter kamen zu meiner Frau, sich beklagen, dass…mein Sohn schlägt die anderen: „צבי מרביץ לנו.“ [hebr., Zvi schlägt uns]. Aber warum, das haben sie nicht gesagt.
LSY: Man hat dann hauptsächlich hebräisch gesprochen?
HB: Nur hebräisch…und wir waren eigentlich…meine Frau hat sehr, sehr lang nicht Hebräisch können…sehr, sehr lang. Untereinander haben wir nur deutsch gesprochen. Mein Sohn hat Deutsch lernen müssen. Interessante Dinge sind da passiert mit meinem Sohn. Er hat versucht, aus dem Französischen immer abzuleiten, auf Deutsch…die Endungen von Deutsch auf Französisch. Zum Beispiel, in Brüssel…ich weiß nicht, ob das in Frankreich auch so ist…etwas, was die Kinder nicht gewusst haben, wie das genau heißt, haben sie gesagt truc-machin [ein Ding]. In Deutsch würde man sagen, ein Dingsda. Eines schönen Tages habe ich ihn gehört, wie er meiner Frau sagte: „Mit einer Maschine.“ Er hat übersetzt das machin auf Deutsch mit Maschine. Und meine Frau hat nicht gewusst, was er will. Das ist nur eine von den verrücktesten Dingen, die passiert sind, wenn das Kind die Muttersprache nicht kennt. Die Muttersprache war natürlich Deutsch, und sie konnte nicht Hebräisch und nicht Französisch – oder schlecht Französisch – und er hat natürlich versucht zu sprechen.
LSY: Und er musste ja auch noch Hebräisch dazulernen und--
HB: --und so weiter. Und ich lerne…mein Hebräisch ist bis heute nicht gut. Mein Hebräisch ist nicht gut, aber Umgangssprache ist okay. Aber Bücher und so, Literatur…nein. Ich kann gut Englisch, sehr gut. Und ich bin mir dessen…ich lese mehr Englisch meistens, oder…hebräische schaue ich mir auch die…hebräische Television schaue ich nicht, meistens englisch. Das ist eine zweite Sprache geworden für mich.
LSY: Und mit Ihren Enkelkindern?
HB: Ja, das ist nur hebräisch.
LSY: Die können ja kein Deutsch mehr oder?
HB: Nein, nein…Enkelkinder doch nicht.
LSY: Und mit Ihrem Sohn reden Sie bis heute auf Deutsch?
HB: Nein, hebräisch. Hier kann man nicht anders, hier sprechen alle hebräisch.
2/00:25:49
LSY: כן [hebr., ja]. Wann waren Sie dann das allererste Mal wieder in Wien zu Besuch?
HB: Das muss ungefähr Ende der [19]60er-Jahre gewesen sein, weil ich…damals habe ich ein Unternehmen geleitet, das auch Uhren importiert hat. Und mit dem Uhrenimport musste ich jedes Jahr in die Schweiz fahren, um dort die Uhren zu bestellen. Es kommt mir vor, dass ich von dort aus einmal nach Wien gefahren bin. Ich weiß es nicht mehr so genau. Wir mussten in die französische Schweiz, nach La Chaux-de-Fonds…zu Tissot und zu Omega sind wir immer gefahren. Jedes Jahr mussten wir mindestens einmal fahren.
[Übergang/Schnitt.]
LSY: Und dann sind Sie auch nach Wien?
HB: Dann bin ich scheinbar auch nach Wien gefahren, einmal, und dann bin ich einmal nach Wien geschäftlich gefahren, weil…es kam ein Jude aus…ein jüdischer Wiener. Das war ungefähr…da bin ich schon hier gewesen. Das muss ungefähr in den späten [19]60er-Jahren gewesen sein…nein, in den [19]70er-Jahren, Entschuldigung. Da habe ich ihm Ware gegeben, sodass er sie in Wien verkaufen kann, und nachdem nichts draus geworden ist, musste ich nach Wien fahren, um meine Ware zurückzunehmen.
LSY: Wie war das für Sie dann, wieder in Wien zu sein? Können Sie sich noch erinnern?
HB: Wie soll ich sagen? Ich hatte keine Aversion. Ich bin frei von diesen Aversionen. Viele Leute können nicht nach Deutschland. Ich kenne persönlich noch sehr gut Leute, die in Deutschland gelebt haben, und für kein Geld der Welt wollen sie nach Deutschland oder nach Österreich. Aber mir hat das nicht…was mich immer nur gestört hat, ist der Dialekt. Der Wiener Dialekt hat mich immer gestört, und ich war immer bestrebt, ihn abzulegen.
LSY: Bei Ihnen hört man das überhaupt nicht.
HB: Nein, bei mir nicht mehr. Die Leute, die ein gutes Ohr haben, die--
LSY: --ja, manche österreichische Redewendungen, aber den Dialekt höre ich nicht.
HB: Ich weiß nicht. Es hat mir nie…ich meine, als Kind habe ich nicht anders gesprochen, wie alle anderen Kinder. Aber dann habe ich das richtige Deutsch gehört, und das war anders. Das war wirklich schöner. Das sind so Kleinigkeiten.
LSY: Aber fühlen Sie heute auch noch, dass von der österreichischen Identität etwas geblieben ist? Wie würden Sie Ihre Identität heute beschreiben? Sind Sie ganz Israeli? Oder…schwere Frage.
HB: Schwer. Schauen Sie, wenn Sie mich so fragen, finde ich, dass wir eigentlich kein Recht haben, hier zu sein. Wir haben Schreckliches erlebt. Man hat uns verfolgt. Stimmt alles, aber meiner Meinung nach hätten diejenigen, die uns das angetan haben, den Preis zahlen müssen und nicht unschuldige Araber. Die haben uns ja nichts gemacht. Eigentlich, aus der Sicht der Araber, haben wir ihnen das Land weggenommen, das Vaterland, und ich verstehe die sehr gut. In meiner persönlichen…wie soll ich sagen…politischen Auffassung, hätte die damalige zionistische Führung das verstehen müssen. Die hätten sagen müssen: „In Palästina gibt es für die europäischen Juden keinen Platz. Für die europäischen Juden muss ein Land geschaffen werden in Europa. Und diejenigen, die das Unglück verschuldet haben, die müssen das Land geben.“ Das wäre eine, ich würde sogar sagen, himmlische Gerechtigkeit gewesen. Dass Deutschland einen Teil abtreten hätte müssen für einen jüdischen Staat. Und die öffentliche Meinung in der Welt wäre bestimmt dafür gewesen.
2/00:30:36
Man hätte die ganzen schlimmen Dinge, die man heute erleben muss, nicht erlebt. Mein Sohn war x-mal beim Militär. Er war beinahe verunglückt, aber nichtsdestoweniger war er in schrecklicher Gefahr, und wir haben das sehr schlimm mitgemacht, wenn er immer…er war beim Sechstagekrieg vielleicht sechs Monate in der Armee. Ich muss sagen, alles in allem kann ich mich nicht abringen…ich kann nicht sagen, dass wir recht haben, dass wir in Palästina sind oder in Israel sind und dass es uns gehört, weil das, was vor 3.000 Jahren war, nicht mehr aktuell ist, und dass es viel aktueller hätte sein müssen. Natürlich, was ich Ihnen hier jetzt sage, die meisten Israelis würden mich zerschlagen. Aber ich glaube, dass die meisten Israelis irgendwie irgendein Gefühl haben, dass das Recht nicht auf unserer Seite ist. Ich glaube das so. Mein Enkelsohn war mal Offizier. Jetzt ist er es nicht mehr…ist schon älter geworden. Nicht der, der hier ist, der andere. Der ist ziemlich nationalistisch eingestellt, und aus Prinzip spreche ich mit ihm überhaupt nicht über Politik, weil wir würden aneinandergeraten, und er würde sagen: „סבא, הכל מה שאתה אומר זה היום אחר“ [hebr., Opa, alles was du sagst, ist heute anders]. Er hat irgendwie das Gefühl…ein Überheblichkeitsgefühl. Er hat das Gefühl, dass meine Weisheit…was ich weiß, dass das alles überwunden ist, dass das nicht so ist, wie es einmal war, und dass die Weisheit von früher nicht mehr die Weisheit von heute sein kann. Vielleicht hat er recht, aber ich weiß es nicht. Aber ich kann mich nicht ändern. Ich will mich auch nicht ändern.
Ich habe das Gefühl… natürlich, wie ich jung war, war ich ein Zionist und war begeistert, aber inzwischen sehe ich es anders. Historisch gesehen hat Ben Gurion, oder seine Leute haben einen wichtigen Punkt übersehen. Die hätten sehen müssen, dass der Krieg hier kein Ende nimmt. Wir, das einfache Volk, konnten das nicht wissen. Aber diese Leute hätten das sehen müssen. Und das, was in dieser Situation, in dieser eigentlich ausweglosen Situation, in der wir sind…sind die schuld. Unser ganzes Vermögen geht in die Waffen: noch bessere Flugzeuge, noch bessere Schiffe und noch bessere Waffen. Das Geld, das eigentlich das Volksvermögen ist, wird auf Waffen spendiert anstatt auf Erziehung, anstatt auf Volksschulen. Mein Ideal wäre, dass jedes Kind auf die Universität geht und forscht und eine große Vorbildung bekommt. Das wäre, was ich eigentlich gerne haben möchte. Aber es geht nicht. Ich weiß es. Und der Krieg wird kein Ende nehmen.
LSY: Und Sie haben das Gefühl, dass Deutschland und Österreich eigentlich wenig den Preis dafür bezahlt haben?
HB: Natürlich. Aber die sind ja nicht schuld. Die Amerikaner sind schuld. Weil die Amerikaner--
LSY: --die haben die Deutschen davon wegkommen lassen.
HB: --haben den Kalten Krieg gewinnen wollen. Die haben die Deutschen benützt als kalte Krieger. Die Deutschen, wenn sie alles bekommen haben, was sie wollten…warum sollen sie ablehnen?
LSY: כן [hebr., ja].
HB: Die haben Geld bekommen und Hilfe und Unterstützung…von allen Seiten. Ich meine, sie sind auch ein tüchtiges Volk. Das muss man sagen. Das will ich gar nicht in Abrede stellen…ein tüchtiges, fleißiges Volk. Man kann es sehen.
2/00:35:40
LSY: Haben Sie jemals versucht, von Österreich Wiedergutmachung zu bekommen?
HB: Ja, ich bekomme eine Wiedergutmachung. Aber viele Jahre lang wollte ich keine, weil ich gut verdient habe, und ich habe gesagt: „Wozu? Ich will das nicht haben. Ich brauche es nicht.“ Als ich dann älter wurde und ich habe gesehen, dass mein Einkommen immer niedriger und niedriger wird, dann habe ich mich schon williger gegeben. Dann war ich schon einverstanden, irgendeine Wiedergutmachung zu bekommen. Und ich bekomme sie bis heute. Natürlich, das was ich heute mache, kann man nicht vergleichen mit dem, was ein Zwanzig- oder 30-Jähriger macht. Das ist nicht zu vergleichen…überhaupt nicht. Das ist nur…ich meine, dem Wissen nach habe ich mich entwickelt, aber in der Fähigkeit zu produzieren, bin ich weit zurückgeblieben. Aber nachdem ich der Boss bin, hat mir niemand etwas zu sagen. Und meine Kinder, mein Sohn und meine Enkelkinder, sind feinfühlig genug, um es mich nicht fühlen zu lassen, dass ich eigentlich nur ein fünftes Rad bin.
LSY: Vielleicht sind Sie es ja auch nicht…kann ich mir nicht vorstellen. טוב [hebr., gut]. תודה רבה [hebr., danke sehr]!
HB: Bitte sehr!
[Ende des Interviews.]